Lesen im Erstsprachenunterricht

Lesenlernen ist ein langer Prozess – in jeder Sprache. Er beginnt damit, dass man lernt, einzelne Laute und Buchstaben oder Schriftzeichen zu entziffern, Wörter zu erkennen, Sätze zu verstehen, Texte inhaltlich zu erfassen und zum Wissenserwerb zu nützen. Schüler/innen müssen diese basalen Lesekompetenzen entwickeln können. Dies bedeutet, dass sie sorgfältig in die Schrift der Erstsprache eingeführt werden, sie ihren Wortschatz systematisch erweitern und dabei auch komplexere syntaktische Strukturen thematisiert werden (Riss u.a. 2016). Durch Vergleiche erkennen Schüler/innen, wie sich das Laut- und Zeichensystem ihrer Erstsprache vom Deutschen unterscheidet. Merkmale und Infos zu 28 Sprachen und ihren Bezug zum Deutschen bieten die Sprachensteckbriefe.

Mit dem Erstsprachenunterricht wird eine ganzheitliche bilinguale und biliterale Bildung angestrebt. Dies bedeutet, dass die Schüler/innen auch in ihrer Familiensprache die Schriftsprache lesen und schreiben lernen, damit sie in der Lage sind, in ihrer Erstsprache schriftliche Informationen einzuholen und zu verarbeiten (Riss u.a. 2016). Lesekompetenzen in der Erstsprache können auch das Lernen in anderen Unterrichtsgegenständen unterstützen und fördern die Lesemotivation, z.B. durch die Lektüre von zweisprachiger Kinder- und Jugendliteratur.

Lesekompetenzen im Erstsprachenunterricht

In den neuen Lehrplänen für den Erstsprachenunterricht in der Volksschule und Sekundarstufe I (Mittelschule,  AHS-Unterstufe)  sind folgende Lesekompetenzen definiert, die Schüler/innen in ihrer Familiensprache bis zum Ende der Volksschule und der Mittelschule/AHS-Unterstufe schrittweise aufbauen und entwickeln sollen:

Leseförderung

Der Begriff Leseförderung umfasst Unterstützungsmaßnahmen für Schüler/innen zur Entwicklung ihrer Lesekompetenz. Ziel der Leseförderung ist eine altersadäquate Entwicklung der Lesefähigkeit und eine damit verbundene Freude am Lesen (Mercator-Institut für Sprachförderung und DaZ 2018). Die Kompetenzen in den neuen Lehrplänen für Pflichtschulen 2023 für den Erstsprachenunterricht, Deutschunterricht und in den Lehrplanzusätzen für Deutsch als Zweitsprache fokussieren daher auch auf einen nachhaltigen Erwerb von Lesestrategien.

Lesestrategien vermitteln

Gute Leser/innen wenden Lesestrategien oft intuitiv an, wenn sie einen unbekannten Text inhaltlich und sprachlich erfassen sollen. Sie beginnen nicht einfach drauflos zu lesen, sondern gehen geplant vor, z.B. einen Text schnell überfliegen und an der Überschrift/dem Titel und Bildmaterial, falls vorhanden, das Thema des Textes erkennen. Es geht darum, ein selektives, globales und detailliertes Leseverstehen zu entwickeln; eine selbstständige Verwendung von Lesestrategien aufzubauen, ist daher auch ein zentraler Aspekt in der Lesekompetenz-Entwicklung (Riss u.a. 2016).

Lesestrategien vermittelt man sehr gut durch „lautes Denken“. Es bedeutet, dass die Lehrperson Texte im Unterricht mit den Schülern und Schülerinnen gemeinsam erschließt und dabei ihre Gedankengänge laut artikuliert (modelliert). Man unterscheidet in der Lesedidaktik zwischen Strategien, die vor, während und nach dem Lesen angewendet werden können.

Strategien vor dem Lesen

  • Nicht sofort mit dem Lesen des ganzen Textes starten, sondern zunächst nur lesen/betrachten: den Titel/die Überschrift, das Bildmaterial, Zwischenüberschriften, hervorgehobene (fett oder farblich markierte) Wörter und Sprachhilfen, wie z.B. Worterklärungen.
    In einem Video der Akademie für Leseförderung Niedersachsen zeigt eine Lehrperson, wie sie sich vor dem Lesen Gedanken zum Text macht.
  • Vermutungen zum Inhalt anstellen: Wovon könnte der Text handeln? Was weiß ich schon darüber?
  • Kann ich die Textsorte erkennen? (Kinder-/Jugendbuchtext, eine Versuchs- oder Spieleanleitung, ein Artikel aus einer Kinderzeitschrift, ein Liedtext u.a.).

Mithilfe dieser Strategien bauen Leser/innen eine Leseerwartung auf, können den Text in Beziehung zu ihrem Weltwissen setzen und aktivieren vorhandenen Wortschatz.

Strategien während des Lesens

  • Wörter und Textstellen markieren, die schon verstanden wurden („Verstehensinseln“ schaffen)
  • Unklare Wörter und Textstellen markieren und klären. Dabei versuchen, sie aus dem Kontext zu erfassen, in der Gruppe zu klären oder durch Nachschlagen im Wörterbuch/Lexikon

Strategien nach dem Lesen

Die Schüler/innen fassen die Inhalte zusammen, geben dabei auch ihre Eindrücke/ihre Meinung wieder. Das kann in vielfältiger Weise umgesetzt werden, wie z.B. als kurzer Text, Tabelle, Mindmap, Lernplakat oder mündlich als Referat oder in Paararbeit in Form eines Interviews. Digitale Medien können bei der Erstellung von Leseprodukten die Motivation der Schüler/innen und Schüler fördern, z.B. können Schüler/innen die schriftliche Zusammenfassung vorlesen und sich dabei mit einem digitalen Sprachtool aufnehmen (z.B. mittels Sprachnachricht-Funktion am Handy, Vocaroo-Voice Recorder).

Damit Lesestrategien wirken, ist es wichtig, sie regelmäßig im Unterrichtsalltag einzusetzen. So lernen  Schüler/innen, ihr Leseverhalten zu reflektieren (hier muss ich langsamer lesen; bei diesem Satz muss ich schauen, was er auf deutsch bedeutet. Das Gedicht ist so kurz - da lese ich gleich alles; dieses Wort kenne ich schon aus dem Sachunterricht), so dass sich der Einsatz von Lesestrategien automatisiert.

Praxisvorschläge zur Förderung von Lesestrategien

  • Praxisbeispiel „Lesetraining“ auf der Plattform myheritagelanguage.com zu unterschiedlichen Lesestrategien. Ist in diesen Sprachen verfügbar: Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Bosnisch, Kroatisch, Mazedonisch, Serbisch, Portugiesisch, Shqip, Türkisch und Tamilisch.
  • Für den Deutsch- und DaZ-Unterricht gibt es Instrumente zum Üben von Lesestrategien. Sie sollten schrittweise eingeführt und kontinuierlich verwendet werden und erfordern eine intensive Begleitung durch die Lehrperson – hier beispielhaft folgende Tools, die auch für den Erstsprachenunterricht nützlich sein können:
    - Der Textknacker: ausgewiesen für die 3. und 4. Schulstufe. Eine Methode zum Textverstehen in 5 Schritten. >> Tutorial
    - Der Lesenavigator: für die 6.-10. Schulstufe. Die Gliederung in die drei Lesephasen – vor dem Lesen, während des Lesens und nach dem Lesen – schafft ein Lerngerüst. Frei verfügbar.
    - Im Verfahren Wir werden Textdetektive für die 5. und 6. Schulstufe werden Lesestrategietraining mit Trainings zur Leseflüssigkeit oder Lesemotiavtion kombiniert.

Leseflüssigkeit trainieren

Studien zeigen, dass Schüler/innen, deren Leseflüssigkeit (reading fluency) sich verbessert, ein positives Selbstbild als Lesende entwickeln, was wiederum die Lesemotivation fördert. Dazu braucht es ein gezieltes Lesetraining (Riss u.a. 2016). Wer routiniert liest, hat auch weniger Schwierigkeiten, den Inhalt eines Textes zu verstehen.

Praxisvorschläge zur Förderung der Leseflüssigkeit

  • Wiederholtes Lautlesen (repeated reading):
    Schüler/innen lesen einem Tutor/einer Tutorin einen kurzen, für sie mittelschweren Text so lange immer wieder vor, bis sie eine bestimmte Anzahl an Wörtern pro Minute fehlerfrei lesen können (Rosebrock/Nix 2020). In der Regel sind es 100 Wörter (Minimum) pro Minute. Der Text sollte nicht zu kurz sein, damit die Lesenden den Text nicht auswendig lernen können. Je nachdem wie gut der Text gelesen wurde, wählt man für den nächsten Durchgang einfachere oder schwierigere Texte aus.
  • Praxisbeispiel „Lesegeläufigkeit trainieren“ im Erstsprachenunterricht (Herkunftssprachenunterricht) auf der Plattform myheritagelanguage.com: Vorschlag für ein Training über 4-6 Wochen mit kleinen Trainingssequenzen von 10-15 Minuten.
    >> Der Beitrag ist auch in diesen Sprachen verfügbar: Englisch, Französisch, Italienisch, Bosnisch, Kroatisch, Mazedonisch und Serbisch, Portugiesisch, Shqip, Türkisch und Tamilisch.
  • Videotipp: „Lesen im Fluss - Apps zur Förderung der Leseflüssigkeit“ in der Grundschule: Ein Webinar der Stiftung Lesen mit Erkenntnissen, die auch für den Erstsprachenunterricht relevant sind.

«Lesen ist eine Technik, die geübt werden muss. Wer diese Technik in einer Sprache beherrscht, wird sie auch für jede weitere Sprache nutzen können. Und: Wenn ein Kind gerne liest, liest es gern in allen Sprachen. (…) Es ist wichtig, globales, gezieltes und deutendes Lesen mit allen Sprachen zu verknüpfen, in allen Sprachen zu erproben. Den Lehrpersonen und den Lernenden muss klar sein, dass sie die meisten Lesestrategien und -techniken in allen Sprachen anwenden können» (Riss u.a. 2016). Daher sollten sich Lehrer/innen des Erstsprachenunterrichts mit Lehrpersonen des Regelunterrichts und der Deutschförderung vernetzen können.

Mehr zum Thema Lesen im Kontext von Mehrsprachigkeit finden Sie auf der  literacy.at-Plattform hier.

Fachliteratur und Links

  • Riss, Maria u.a. (2016): Förderung des Lesens in der Erstsprache. Orell Füssli
  • Rosebrock, Cornelia / Nix, Daniel (2020): Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung. 9. Aufl. Schneider Verlag Hohengehren
  • Jambor-Fahlen, Simone (2018). Leseförderung. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache (Basiswissen sprachliche Bildung)
  • www.myheritagelanguage.com
  • Der Bereich „Lesen“ auf der Plattform dazunterricht-gestalten.at  des BIMM
  • Im Video „Lesekompetenz fördern durch Lesestrategien“ der Pädagogischen Hochschule Bern erklärt Bettina Stadler wie Lesestrategien in der Schule vermittelt werden können.
  • Zeitungen aus aller Welt – Tiroler Bildungsservice: https://lesen.tibs.at/zeitungen