Mehrsprachigkeit & Migration

Mehrsprachigkeit ist die Normalität

Mehr als ein Viertel der Schüler/innen in Österreich, in Wien mehr als die Hälfte, verwendet im Alltag eine andere Umgangssprache als Deutsch (Statistik Austria für das Schuljahr 2019/20). Zwei- und Mehrsprachigkeit ist eine migrationsbedingte Realität, auf die sich Schulen schon lange einstellen müssen (Huxel 2020) – viele tun es auch. 

Obwohl Zwei- und Mehrsprachigkeit sehr häufig ist, existieren immer noch Mythen (Grosjean 2020):

  • „Alle Sprachen sollen möglichst auf muttersprachlichem Niveau beherrscht werden.“ Nein, das ist nicht die Realität. Zwei- und mehrsprachige Personen sind meist nicht in allen ihren Sprachen gleich stark. Nur wenige Personen erreichen solche Fähigkeiten, z. B. Dolmetscher/innen und Übersetzer/innen oder Sprachwissenschaftler/innen und Lehrpersonen, die ihre Sprachen ständig und in vielen unterschiedlichen Lebenssituationen verwenden.
  • „Frühe Zweisprachigkeit verzögert den kindlichen Spracherwerb.“ Nein – in der frühen Kindheit durchlaufen Kinder wesentliche Entwicklungsstufen im Spracherwerb – egal, ob in einer, zwei oder mehreren Sprachen.
  • „Zwei- und Mehrsprachigkeit beeinflusst die kognitive Entwicklung negativ.“ Nein – vielmehr ist es so, dass mehrsprachige Kinder in manchen Bereichen Vorteile haben, z. B. gelingt es zwei- und mehrsprachigen Personen leichter, sich an neue sprachliche Regeln anzupassen oder über Sprachen zu reflektieren (metasprachliche Kompetenzen). 

Mehrsprachigkeit ist eine Ressource

Die Kompetenz, sich in mehr als einer Sprache auszudrücken, ist eine wertvolle Ressource. Linguistisch gesehen ist die Erstsprache das Fundament, auf dem eine Fremdsprache aufbaut. Wenn Sprachstrukturen in der Erstsprache ausgebildet und gefestigt werden, können Schüler/innen auch in der neuen Sprache sprachliche Strukturen besser erkennen und erlernen.

Mehrere Sprachen zu sprechen, kann in jedem Unterricht hilfreich sein. So nützt es Schüler/innen z. B. beim Chemie-Lernen, wenn sie gemeinsam entdecken, dass das Wort „Sauerstoff“ in vielen Sprachen „oxygen“ heißt. Diese Entdeckung hilft dabei, sich das „O“ als Zeichen für das chemische Element Sauerstoff zu merken. 

Weitere Video-Vorträge und Interviews zum Themenfeld Mehrsprachigkeit und Schule finden Sie auf der Themenplattform des BIMM (Zentrum Sprachliche Bildung im Kontext von Migration und Mehrsprachigkeit).



Videos

Literaturtipps: 

  • Gogolin, Ingrid (2004): Lebensweltliche Mehrsprachigkeit. In: Bausch, Karl-Richard (Hrsg.): Mehrsprachigkeit im Fokus. Arbeitspapiere der 24. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr, S. 55–61.
  • Gogolin, Ingrid / Hansen, Antje / McMonagle, Sarah / Rauch, Dominique (Hrsg.): Handbuch Mehrsprachigkeit und Bildung. Wiesbaden: Springer. Daraus: 
    • Huxel, Kathrin (2020): Schulentwicklung unter Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit, S. 233–238.
    • Grosjean, François (2020): Individuelle Zwei- und Mehrsprachigkeit, S. 13–21.
  • Link zum Verlag.

Mehrsprachigkeit ist auch eine Herausforderung

Kinder mit einer anderen Erstsprache als Deutsch beherrschen ihre mitgebrachten Sprachen unterschiedlich kompetent und machen individuelle Sprachlernerfahrungen. Hier beispielhaft vier Ausgangslagen von Kindern, die in Österreich leben:

  • Amir spricht in seiner Erstsprache Türkisch und verwendet kaum Deutsch. Im Kindergarten spielt er vorwiegend mit türkischsprachigen Kindern – bald kommt er in die Schule. 
  • Elenis Eltern haben nicht dieselbe Erstsprache. Die Mutter spricht Griechisch, der Vater Albanisch – das Mädchen wächst zweisprachig auf und kann auch Deutsch. Sie und ihre Familie haben viele deutschsprachige Freunde.
  • Dansos Mutter spricht mit ihm ihre Familiensprache aus Ghana. Sein Vater spricht mit ihm Yoruba (Sprache in Nigeria). Miteinander und im Beisein des Kindes sprechen die Eltern Englisch. Der Einstieg in den Kindergarten war anfangs schwierig. Danso spricht nach kurzer Zeit aber auch Deutsch. 
  • Laras Eltern sprechen mit ihr nur Deutsch, weil Deutsch die Erstsprache ihres Vaters ist. Ihre Mutter hat russische Wurzeln, kam aber bereits als Kleinkind nach Österreich. Sie spricht ihre Erstsprache nur noch selten. Die Mutter möchte, dass ihre Tochter in der Schule auch Russisch lernt.

Kann Lara für den Russisch-Unterricht begeistert werden? 
Lernt Amir in seiner Erstsprache Lesen und Schreiben und wird er zweisprachig alphabetisiert?
Wird Eleni im schulischen Englischunterricht Angebote erhalten, die bei ihrem höheren Sprachniveau ansetzen? 
Werden Dansos Sprachlernerfahrungen in der Schule genützt? Wird er Erstsprachenunterricht erhalten – und wenn ja, in welcher Sprache? 

Im Schulalltag ist es eine große Herausforderung, allen individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden. Die Beispiele der vier Kinder machen deutlich, dass eine gesamtheitliche Sicht auf die sprachliche Bildung und ein Austausch zwischen den Pädagog/innen eines Schulteams notwendig sind.