Schreiben im Erstsprachenunterricht

Schreiben ist wie das Lesen eine Kulturtechnik. Schreiben zu können, ist für Lernprozesse und gesellschaftliche Teilhabe ganz wesentlich. Der Erstsprachenunterricht bietet Schüler/inne/n mit anderen Erstsprachen als Deutsch die Chance, auch in ihrer Familiensprache Lese- und Schreibfähigkeiten zu entwickeln. Eine bilinguale Bildung stärkt ihre mehrsprachige Identität und ermöglicht es, Wissen auch über die Erstsprache zu erwerben und für das Lernen zu nutzen.

In den neuen Lehrplänen für den Erstsprachenunterricht in Volksschulen und  Schulen der Sekundarstufe I (Mittelschule, AHS-Unterstufe) – sind folgende Schreibkompetenzen definiert, die Schüler/innen bis zum Ende der 4. und 8. Schulstufe nachhaltig erwerben sollen:

Volksschule
Mittelschule und AHS-Unterstufe
Die Schülerinnen und Schüler können ...
  • Texte unterschiedlicher Textsorten zu konkreten Themen ihrer Lebenswelt verfassen und bei Bedarf bereitgestellte sprachliche Scaffolds nutzen (Satzanfänge, Formulierungshilfen, Hinweise zur Gliederung eines Textes u. a.).
  • längere Texte unterschiedlicher Textsorten zu Themen ihrer Lebenswelt sowie ausgewählten Fachthemen planen und mit bewusstem Einsatz (bildungs-)sprachlicher Mittel verfassen (bei Bedarf unter Nutzung von bereitgestellten sprachlichen Scaffolds).
  • kurze kreative Texte zu Textvorlagen verfassen, z. B. Reime, Gedichte, Lieder, Geschichten u. a. (generatives Schreiben).
  • mit Hilfe von unterschiedlichen Impulsen und Vorlagen kreative Texte zu verschiedenen Themen schreiben.
  • kurze Sachtexte zu konkreten Themen ihrer Lebenswelt verfassen und bei Bedarf bereitgestellte sprachliche Scaffolds nutzen.
  • beim Verfassen längerer fachbezogener Texte selbstständig sprachliche Scaffolds einsetzen (Satzanfänge, Formulierungshilfen, Hinweise zur Gliederung eines Textes, Nachschlagewerke u. a.) und bei Bedarf unterschiedliche Informationsquellen nutzen.
Schreibkompetenzen in den Lehrplänen 2023

Kernpunkte einer Schreibdidaktik

In der modernen Schreibdidaktik stehen der Text als Produkt und der Schreibprozess gleichermaßen im Zentrum:  Wie man einen Text plant, verschriftet und überarbeitet (Lemke/Hoffmann, 2022). Ähnlich wie bei der Leseförderung geht es also auch beim Schreiben darum, welche didaktischen Schritte man als Lehrperson vor, während und nach dem Schreiben setzt. Basil Schader (2016) führt folgende fünf Kernpunkte einer zeitgemäßen Didaktik des Texteschreibens in der Broschüre „Förderung des Schreibens in der Erstsprache“ näher aus (Text ist in mehreren Sprachen verfügbar):

1. Schreiben als soziale Tätigkeit und Adressatenbezug

Schreiben ist eine kommunikative Handlung bis auf wenige Ausnahmen (Tagebuch u.a.). Ein geschriebener Text richtet sich meist an eine oder mehrere Personen. Wenn Schüler/innen zum Schreiben aufgefordert werden, sollen sie daher auch wissen, für wen und wozu sie schreiben sollen (vgl. Schader, 2016):

  • Für die eigene Lerngruppe: z.B. Geschichten, Gedichte, Lernplakate, Bilderbücher, Comics, Sketches, Witze. Die Schreibprodukte in der Klasse ausstellen oder in einem gemeinsamen virtuellen Raum zugänglich machen (z.B. auf einem CryptPad oder der Website der Schule)
  • Für Mitschüler/innen im Schulgebäude: z.B. eine mehrsprachige Wandzeitung, Ausstellung
  • Ältere Schüler/innen schreiben etwas für jüngere Schüler/innen
  • Für Verwandte und Bekannte im Herkunftsland (der Eltern): z.B. Glückwünsche, eine Rezeptsammlung

2. Motivierende Schreibaufträge

Die Themen sollen mit motivierenden Aufgabenstellungen einen engen Bezug zum Alltagsleben der Schüler/innen haben und auch ihren Wünschen, Träumen und Fantasien Raum geben. Vorschläge für Arbeitsaufträge finden Sie in Unterrichtsbeispielen der Broschüre von Basil Schader (2016) „Förderung des Schreibens in der Erstsprache“ - darunter auch:

3. Vielfältige Textformen und Medien

Im Deutschunterricht dominierten in der Vergangenheit Erlebnisaufsätze und Nacherzählungen. In einem zeitgemäßen Sprachenunterricht beschäftigen sich Schüler/innen mit vielfältigen Textformen: Berichte in Medien, Bildergeschichten, Fantasietexte, Comics, Plakate, Formulare, Blogs, Chats, Mails, Briefe u.a. Schreiben findet heute analog und digital statt. Ziel ist es, dass Schüler/innen lernen, ihre in der Erstsprache geschriebenen Texte in verschiedenen Darstellungsformen ansprechend zu gestalten und zu präsentieren. Dazu ist es wichtig, bei einem Schreibauftrag Adressat/inn/en und/oder das geplante Produkt zu nennen (z.B. Geschichten-Sammlung, Plakat, Videoclip). Es erhöht die Schreibmotivation, weil die Schüler/innen dadurch wissen, dass sie nicht einfach nur für ihre Lehrerin oder ihren Lehrer schreiben, sondern dass ihre Texte von einem echten Publikum gelesen werden. Sie sind dadurch auch motiviert, ihr Schreibprodukt formal korrekt und ästhetisch ansprechend zu gestalten (vgl. Schader, 2016).

>> Ideen für Schreibprojekte (in mehreren Sprachen verfügbar)

4. Angeleitetes und freies Schreiben

Schreibanlässe in der Schule sollen in gelenkten und auch in freien Situationen geboten werden. Beim angeleiteten Schreiben stehen der Auf- und Ausbau sprachlicher Teilkompetenzen im Fokus, wie z.B. Wortschatz (Satzanfänge u.a.), verschiedene syntaktische Muster oder Textaufbau (Schader, 2016). Dabei werden die Schüler/innen durch Scaffolds (Sprachhilfen, engl. für „Gerüst“) unterstützt.

Beim didaktischen Prinzip des Scaffolding bietet eine Lehrperson so viele Sprachhilfen wie nötig an, damit Schüler/innen eine Aufgabe bewältigen können. Beim Schreiben kann dies z.B. ein Mustertext sein oder Formulierungshilfen, Satzanfänge und Worterklärungen. Scaffolds einzusetzen, ist besonders in Lerngruppen mit sprachlich unterschiedlichen Niveaus hilfreich. Für sprachschwächere Schüler/innen sind Sprachhilfen eine wertvolle Unterstützung, da sie ihnen ein selbständiges Schreiben ermöglichen und eine Erweiterung der Sprachkompetenz anstoßen. Bei Schader (2016) finden Sie Praxisbeispiele für den Erstsprachenunterricht zu Scaffolding in mehreren Sprachen.

Beispiele für angeleitetes Schreiben:

  • Variation eines Briefes: ihn an eine andere Adressatin oder einen anderen Adressaten schreiben;
  • Parallelgeschichten oder Parallelgedichte schreiben, in denen aus der Vorlage eine Figur, ein Ort oder ein Gegenstand ausgewechselt werden. Auch bei der Methode des generativen Schreibens schreiben Kinder mit bestehenden Textmustern neue Texte. Ein Beispiel für Deutsch aus dem Kinderbuch „Der Hase mit der roten Nase“ (vgl. Belke, 2021):
    - Original: Es war einmal ein Hase / mit einer roten Nase / und einem blauen Ohr. / Das kommt ganz selten vor.
    - Neue Variante: Es war einmal eine Katze / mit einer silbernen Tatze / und einem goldenen Ohr. / Das kommt ganz selten vor.
    Die produktive Beschäftigung mit Literatur fördert das Schreiben und die implizite Beschäftigung mit Grammatik und Wortschatz.

Freie Schreibanlässe regen Schüler/innen an, sich mit einem Thema schriftlich auseinanderzusetzen, ohne sich dabei eng an eine Vorlage orientieren zu müssen. Zu Beginn ist es auch bei freien Schreibanlässen ratsam, im Vorfeld auf das Thema (z.B. einer Fantasiegeschichte) einzustimmen, oder das geplante Sachthema vorzubesprechen.

Wichtig: auch freie Schreibaufträge brauchen klar kommunizierte Vorgaben zum erwarteten Text. Schüler/innen mit geringen Sprachkenntnissen sind durch gänzlich freie Schreibaufträge oft überfordert. Freies Schreiben kann jedoch Schüler/innen dazu ermutigen, auch außerhalb der Schule erstsprachliche Texte zu schreiben.

5. Prozessorientierung und Schreibphasen

Schreibphasen helfen Schüler/inne/n, ihren Schreibprozess in überschaubare Schritte zu unterteilen und sich nicht vom erwarteten Textprodukt überfordert zu fühlen (Schader, 2016):

  • Ideen finden / Vorwissen aktivieren
  • Textaufbau planen und strukturieren
  • Text schreiben
  • Text überarbeiten
  • Text präsentieren

Zur Umsetzung dieser Schreibphasen brauchen Schüler/innen Strategien, die im Unterricht explizit vermittelt und angewendet werden, z.B. beim Planen und Strukturieren: ein gemeinsames Aktivieren von Wortschatz (Assoziogramm, Cluster) oder das Stellen von W-Fragen als Gerüst. Die Lehrperson zeigt an einer konkreten Aufgabe, wie sie vorgeht und begleitet ihr Tun sprachlich – sie modelliert damit ihren Schreibprozess und macht ihn für die Lernenden nachvollziehbar: wie sie den Aufbau des Textes plant, sich Titel überlegt, in wieviele Abschnitte sie ihren Text gliedert,  welche Strategien der Selbstkorrektur sie anwendet u.a.

>> Praxisvorschläge: Techniken und Strategien für die verschiedenen Phasen des Schreibprozesses im Erstsprachenunterricht (Schader, 2016)

Bei der Überarbeitung muss nicht immer die Lehrperson die erste Person sein, die einen Schüler/innentext durchsieht.  TIPP: Setzen Sie Methoden ein, bei denen Schüler/innen sich gegenseitig Feedback geben und so ihre Texte verbessern. Die Qualität des Textes steigt, Schüler/innen lernen voneinander und Lehrpersonen haben einen geringeren Korrekturaufwand. In der Materialiensammlung des Lehrerfortbildungsservers Baden-Württemberg finden Sie Beispiele für kooperative Methoden der Textüberarbeitung wie z.B. die "Textlupe".

In Schader (2016) finden Sie neben Anregungen zur Förderung verschiedener sprachlicher Aspekte  (Wortschatz, Stil, Syntax und Morphologie) auch diese Unterrichtsideen:

  • Schreibanlässe für den Erstsprachenunterricht
  • Projekte für die Kooperation mit dem Regelunterricht
  • Musisch-kreative Gestaltungsprojekte mit Sprache

>> zu den Unterrichtsideen

Fachliteratur und Links

  • Schader, Basil (2016): Förderung des Schreibens in der Erstsprache. Orell Füssli Verlag. (Reihe Materialien für den herkunftssprachlichen Unterricht. Didaktische Anregungen 1).
    >> Zu den Kernpunkten der Schreibdidaktik im Erstsprachenunterricht
  • Hachmeister, Sabine (2018): Schreibdidaktik. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache (Basiswissen sprachliche Bildung).
  • Jambor-Fahlen, Simone (2018): Lesen und Schreiben lernen in der Grundschule. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache (Faktencheck).
  • Lemke, Valerie und Hoffmann, Lea (2022): Schreibdidaktik. Heidelberg: Universitätsverlag Winter.
  • Der Bereich „Schreiben“ auf der Plattform dazunterricht.at des BIMM.

 

Schriftsystem und Wortschatz in der Erstsprache

Schriftsprachliche Vorkenntnisse in der Erstsprache können bei Kindern und Jugendlichen sehr unterschiedlich sein. Wenn sie zuerst in der deutschen Sprache alphabetisiert wurden, ist eine sorgfältige Einführung in das Laut- und Zeichensystem der Erstsprache wichtig. Bei Erstsprachen, die mit dem lateinischen Alphabet geschrieben werden, gibt es unter Umständen Buchstaben, die in der deutschen Schulsprache nicht vorkommen, wie z.B. das ë oder ç. Bei nicht-lateinischen Alphabeten kommt es zu weniger Verwechslungsmöglichkeiten, dafür muss die gesamte Alphabetisierung erst aufgebaut werden (vgl. Schader, 2016).

Ähnlich wie bei der Alphabetisierung im Deutschen sind für den Schriftspracherwerb im Anfangsunterricht die Entwicklung eines phonologischen Bewusstseins und motorische Fertigkeiten (Stifthaltung u.a.) notwendig (vgl. DaZ-Portal des Zentrums für Förderpädagogik, Belgien).

Im Projekt KOALA zum koordinierten mehrsprachigen Lernen setzen Grundschulen in Deutschland u.a. eine koordinierte zweisprachigen Alphabetisierung (Deutsch + Erstsprache) um. KOALA geht weit über die Alphabetierung hinaus und arbeitet mit mehrsprachigkeitsdidaktischen Modellen im Regelunterricht und mit einem sprachsensiblen Unterricht in anderen Fächern.
>> Handreichung für Grundschulen zur Umsetzung von KOALA (Bezirksregierung Köln)

In der Erstsprache fehlt es oft an (Fach-)Wortschatz , da im privaten Umfeld vorwiegend über familiäre Themen kommuniziert wird. So verwenden Schüler/innen für schulbezogene oder anspruchsvollere Themen häufig die Schulsprache Deutsch. Ziel ist es, auch im Erstsprachenunterricht einen differenzierteren Wortschatz aufzubauen, der für konkrete fachsprachliche Schreibanlässe verwendet werden kann.

  • Bei Basil Schader (2016) finden Sie Anregungen zur Arbeit am Wortschatz (Arbeit mit Wortfeldern, Bereitstellen von Satzanfängen, Arbeit mit Lückentexten u.a.). Die Anregungen sind in 9 Sprachen verfügbar.

Fachliteratur und Links:

  • Schader, Basil (2016): Förderung des Schreibens in der Erstsprache. Orell Füssli Verlag. (Reihe Materialien für den herkunftssprachlichen Unterricht. Didaktische Anregungen 1) >> www.myheritagelanguage.com
  • Vogel, Lina Maria (2020): Zur Bedeutung der koordinierten Alphabetisierung von Erst- und Zweitsprachen: Eine qualitative Interviewstudie mit Teilnehmenden am Koala Programm. Universität zu Köln. https://kups.ub.uni-koeln.de/53621/
  • Maahs, Ina-Maria und Sánchez Oroquieta, María José (November 2021): KOALA - Koordiniertes Mehrsprachiges Lernen. Pro DaZ (Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern an der Universität Duisburg-Essen).